Entlastung für die Unverzichtbaren
Pflege ist in Deutschland und Baden-Württemberg in erster Linie Familiensache. Im Dezember 2023 erhielten 624.831 Menschen im Land Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz – ein Zuwachs um 15,6 Prozent innerhalb von zwei Jahren.
Pflegende Angehörige der größte „Pflegedienst“ im Land
Besonders stark stieg die Zahl der Menschen, die ausschließlich von Angehörigen gepflegt werden: 349.254 waren es 2023, ein Plus von 20 Prozent gegenüber 2021. Insgesamt wurden 85,1 Prozent der Pflegebedürftigen vorwiegend zu Hause versorgt. Damit sind pflegende Angehörige der größte „Pflegedienst“ im Land – und zugleich eine Gruppe, die oft unsichtbar bleibt. Sie übernehmen Verantwortung Tag und Nacht, häufig neben Beruf und Familie, ohne dass ihre Arbeit in gleicher Weise anerkannt wird wie die von professionellen Pflegekräften. Zwar arbeiten landesweit gut 149.000 Menschen in 3.400 Pflegeeinrichtungen, doch ihr Einsatz reicht nicht, um die wachsende Zahl von Pflegebedürftigen zu versorgen. Angehörige sind es, die den Alltag stemmen – mit allen Belastungen, die das mit sich bringt.
Besonders bemerkenswert ist die Verteilung innerhalb der häuslichen Pflege: Fast 350.000 Menschen werden ausschließlich von Angehörigen betreut, während rund 103.000 zusätzlich ambulante Pflegedienste in Anspruch nehmen. Weitere knapp 80.000 haben Pflegegrad 1 und erhalten nur Unterstützungsleistungen im Alltag. Demgegenüber steht die stationäre Versorgung mit 92.900 Menschen, deren Zahl in den vergangenen Jahren nur leicht gestiegen ist. Die Botschaft ist eindeutig: Das Rückgrat des Pflegesystems bilden die Familien.
Für viele Pflegende bedeutet das eine Doppelbelastung. Besonders Frauen – Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter – tragen den größten Teil der Verantwortung. Nicht selten reduzieren sie ihre Erwerbstätigkeit oder geben ihren Beruf ganz auf. Das hat Folgen: weniger Einkommen, geringere Rentenansprüche und das Risiko von Altersarmut. Hinzu kommen gesundheitliche Belastungen. Studien zeigen, dass pflegende Angehörige häufiger an Schlafstörungen, Depressionen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden als Gleichaltrige ohne Pflegeverantwortung.
Wie können Kommunen helfen, die Situation der Angehörigen zu verbessern?
Das Pflegerisiko steigt zudem deutlich mit dem Alter. Während unter 65 Jahren nur 1,5 Prozent der Bevölkerung pflegebedürftig sind, betrifft es bei den über 80-Jährigen fast die Hälfte, bei den über 90-Jährigen mehr als 80 Prozent. Damit wird absehbar: Wenn die geburtenstarken Jahrgänge ins hohe Alter kommen, steigt die Zahl der Pflegebedürftigen weiter – und mit ihr die Belastung für die Familien. Umso dringender stellt sich die Frage, wie Kommunen helfen können, die Situation der Angehörigen zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist Meersburg am Bodensee. Dort beteiligte sich die Stadt 2025 erneut an den Verwöhn- und Wohlfühltagen für pflegende Angehörige, die das Landratsamt Bodenseekreis gemeinsam mit dem Netzwerk „Älter werden im Bodenseekreis“ organisiert. „Vier von fünf Pflegebedürftigen in Deutschland werden von Angehörigen betreut. Sie tragen damit eine enorme Verantwortung und leisten Tag für Tag einen stillen, aber unverzichtbaren Beitrag für die Gesellschaft“, sagt Patricia Jahn, Quartiersmanagerin in der Abteilung Familie, Bildung und Soziales in Meersburg.

„Um diese wertvolle Arbeit zu würdigen und pflegenden Angehörigen eine wohlverdiente Auszeit zu ermöglichen, laden wir gemeinsam mit unseren Partnern jedes Jahr zu einem kostenlosen Verwöhn- und Wohlfühltag ein.“ Zur Auswahl standen 2025 insgesamt 14 Ausflugsprogramme von Juli bis Oktober – vom Schiffsausflug auf dem Bodensee über Museumsbesuche bis hin zu einem gemeinsamen Café-Nachmittag. Für Menschen, die sonst rund um die Uhr im Einsatz sind, sind solche Angebote eine seltene Gelegenheit, einmal loszulassen.
„Die Verwöhntage haben sich mittlerweile fest etabliert und werden sehr gerne angenommen. Das positive Feedback der Teilnehmenden bestätigt den Erfolg des Angebots“, so Jahn. Viele Angehörige beschrieben den Tag als wohltuende Pause vom Alltag. „Ich würde sagen, die Teilnehmenden empfinden es als ein entspannendes und informatives Abenteuer mit Gleichgesinnten. Für viele sind solche Auszeiten absolute Ausnahmen.“
Wunsch nach praktischer Unterstützung im Alltag
Doch die Bedürfnisse gehen weit über einen einzelnen Tag hinaus. „Pflegende Angehörige wünschen sich verschiedene Arten von Unterstützungen, insbesondere aber eine praktische Entlastung im Alltag“, betont Jahn. Dazu gehören kurzfristige Betreuungsmöglichkeiten, mehr Angebote der Kurzzeitpflege oder die Unterstützung durch ehrenamtliche Helfer. Ebenso wichtig sei die emotionale Begleitung: „Jemanden zu haben, der zuhört und Verständnis zeigt, kann eine große Hilfe sein.“ Auch der Zugang zu Informationen und Schulungen werde häufig nachgefragt – nicht zuletzt, um Isolation zu vermeiden und besser vorbereitet in den Pflegealltag zu gehen.
Im Bodenseekreis gibt es bereits eine Vielzahl von Beratungs- und Hilfsangeboten. Dazu zählen der Pflegestützpunkt des Landratsamts, der Caritasverband Linzgau, das Diakonische Werk in Überlingen und das Netzwerk Demenz des DRK-Kreisverbands. Broschüren wie der „Wegweiser für ältere und pflegebedürftige Menschen“ geben Orientierung und erleichtern den Zugang zu Unterstützung. In Meersburg selbst sind mehrere ambulante Pflegedienste tätig, ergänzt durch ein städtisches Pflegeheim mit Tagespflege sowie zwei Seniorenwohnanlagen mit Serviceangeboten.
Für viele sind solche Auszeiten absolute Ausnahmen.
Patricia Jahn, Quartiersmanagerin in Meersburg, zu den Verwöhntagen für pflegende Angehörige.
Trotz dieser Vielfalt sieht Jahn Lücken: „Was uns derzeit noch fehlt, ist eine organisierte Nachbarschaftshilfe. Angesichts des steigenden Versorgungsbedarfs ist ein fester Ansprechpartner für die Belange älterer oder pflegebedürftiger Menschen vor Ort essenziell.“ Die Stadt hat deshalb 2025 das Seniorennetzwerk Meersburg gegründet, in dem sich engagierte Bürgerinnen und Bürger zusammentun, um gemeinsam neue Formen der Unterstützung zu entwickeln. Ziel ist es, die Nachbarschaftskultur zu stärken, Unterversorgung zu verhindern und Einsamkeit im Alter entgegenzuwirken.
Bürgerschaftliches Engagement gezielt fördern
Für die Kommunen insgesamt ist die Frage nach der Entlastung pflegender Angehöriger ein Schlüsselthema. Der demografische Wandel wird die Zahl der Pflegebedürftigen weiter steigen lassen, während Fachkräfte knapp bleiben. Schon heute zeigt sich, dass die häusliche Pflege dynamischer wächst als die stationäre Versorgung: Zwischen 2021 und 2023 stieg die Zahl der zu Hause versorgten Menschen um 18,6 Prozent, während die Zahl der Heimbewohner nur um 1,3 Prozent zunahm. Die Pflege bleibt damit vor allem ein familiäres Thema – und damit eine kommunale Aufgabe, wenn es um Anerkennung, Beratung und Entlastung geht.
„Es ist wichtig, dass die Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene aufeinander abgestimmt sind und die Bedürfnisse pflegender Angehöriger in den Mittelpunkt
stellen“, fordert Jahn. Vor allem müsse Bürgerschaftliches Engagement gezielt gefördert werden. Zudem sollten Seniorenbeauftragte in Kommunen keine freiwillige „Kann-Leistung“ mehr sein, sondern fester Bestandteil der Verwaltung. „Ohne engagierte Menschen vor Ort, die zuhören, koordinieren und begleiten, wird es in Zukunft schwer sein, pflegende Angehörige ausreichend zu entlasten.“
Die Erfahrungen aus Meersburg machen deutlich: Auch kleine, konkrete Angebote können eine große Wirkung entfalten. Ein Tag auf dem Bodensee ersetzt keine professionelle Pflege, aber er schenkt Anerkennung und schafft Momente der Entlastung. Für die vielen Menschen, die ihre Partner, Eltern oder Kinder zu Hause pflegen, ist das ein wichtiges Signal. Und für die Kommunen macht es deutlich: Die Unterstützung pflegender Angehöriger wird in den kommenden Jahren nicht weniger, sondern noch wichtiger werden.
