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Sicherheit, Freiheit und Eigenverantwortung statt Vollkaskomentalität

28. April 2022
Im Rahmen der gestrigen Sitzung des Landesvorstands des Gemeindetags in Herrenberg (Landkreis Böblingen) diskutierten die Gremienmitglieder zunächst mit Justiz- und Migrationsministerin Marion Gentges MdL über die Herausforderungen des Kriegs in der Ukraine und dessen Auswirkungen auf Baden-Württemberg. Im weiteren Verlauf der Tagesordnung waren der Fachkräftemangel in den Kitas, die Ungewissheiten im Hinblick auf den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung an den Grundschulen, das Spannungsfeld zwischen Energiesicherheit und Energiewende, das Landesmobilitätskonzept und die überbordenden bürokratischen Anforderungen zur Umsetzung neuer Umsatzsteuerregelungen für die Kommunen Tagungsschwerpunkte.

„Die Städte und Gemeinden leisten bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen im Kontext des Kriegs in der Ukraine Großartiges. Die erste Phase der Aufnahme der kriegsvertriebenen Menschen aus der Ukraine ist gut gelungen. Wir sind der zuständigen Ministerin Gentges und ihrem Staatssekretär Lorek für das schnelle Einberufen eines regelmäßig tagenden Krisenstabes dankbar. Allein in den letzten neun Wochen wurden in den baden-württembergischen Kommunen mehr als 80.000 Menschen aufgenommen und von den Ämtern erfasst. Das ist eine herausragende Leistung der Zivilgesellschaft gemeinsam mit den Rathäusern und Kreisverwaltungen. Diese Leistung hat es verdient, auch einmal betont zu werden“, macht Gemeindetagspräsident Steffen Jäger nach der Sitzung deutlich.

Gravierender Fachkräftemangel an Schulen und Kitas

Jäger betont, es bliebe nun jedoch keine Zeit zum Durchschnaufen: denn nach der Aufnahme stellten sich viele weitere Herausforderungen. Wo sollen die Menschen wohnen, wenn sie doch länger bleiben müssen? Wo gehen die Kinder zur Schule, wie sollen zusätzliche Kita-Plätze geschaffen werden? Hinzu kommt die Frage, wie auf der Grundlage der Bund-Länder-Einigung eine Finanzierung der Aufwendungen auf kommunaler Ebene sichergestellt werden kann. Alle diese Fragen, gälte es nun schnell zu beantworten. Die Mitglieder des Landesvorstands berichten aus den Kommunen, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt. Wohnungen seien in Baden-Württemberg seit Jahren knapp. An den Schulen fehlten Lehrer und der Fachkräftemangel an den Kitas sei gravierend. Und die Finanzierung dieser Aufgaben dürfe nicht zur Konkurrenz zur sonstigen kommunalen Aufgabenerfüllung werden.

Steffen Jäger: Neue politische Bedürfnispyramide ist erforderlich

"Wir müssen diesen Realitäten ins Auge blicken. Und wir müssen uns ehrlich machen. Die staatliche Leistungsfähigkeit ist am Limit. Schon in Friedenszeiten würde die Summe der aktuellen Herausforderungen dazu führen, dass die Leistungsfähigkeit der staatlichen Ebenen kaum reichen würde, um den immer umfassender werdenden Ansprüchen gerecht zu werden. Hinter uns liegt aber eine Phase der Dauerkrise. Zudem hat die vielzitierte Zeitenwende, die der brutale Angriffskrieg der russischen Föderation auf die Ukraine ausgelöst hat, die Welt verändert. Dies macht auch eine neue politische Bedürfnispyramide erforderlich“, ergänzt Jäger. Ausgerechnet im Jahr des 70-jährigen Bestehens des Südweststaates bedeute dies, so der Gemeindetagspräsident, eine riesige gesellschaftliche Herausforderung mit ungewissem Ausgang.

Jäger: Viele erreichte Standards müssen auf den Prüfstand gestellt werden

„Daher teilen wir ausdrücklich die Erwartung von Herrn Ministerpräsident Kretschmann, dass sich dies spürbar auf den materiellen Wohlstand von uns allen auswirken wird. Ein stetiges ‘mehr, besser und umfassender‘ kann es nicht mehr geben.“ Vielmehr müsse es beim politischen Kompass nun um Grundsätzliches gehen: „Jeder Einzelne ist als Teil unserer Gesellschaft in der Verantwortung, sich für das Gelingen unserer freiheitlichen und zukunftsfähigen Demokratie einzubringen. Dazu wird auch gehören, Zumutungen und Einschnitte zu ertragen. Es ist deshalb nicht die Zeit, reflexmäßig zu betonen, was alles nicht geht. Wir alle sind gefordert die Frage zu beantworten, wie wir die großen Herausforderungen mit den verfügbaren Ressourcen meistern. Es ist daher auch Teil der bitteren Wahrheit, dass viele der erreichten Standards auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Wir sind auch der klaren Überzeugung, dass dies in aller Offenheit in der Gesellschaft diskutiert werden muss.“

Die Themen der Frühjahrstagung seien eindrucksvolle Belege dafür, so Jäger:

Frühkindliche Bildung und Betreuung

In der frühkindlichen Bildung fehlten schon heute viele tausend Plätze. Der Grund sei, dass es die erforderlichen Fachkräfte nicht gäbe. „Und das obwohl bei den Trägern heute mehr als doppelt so viele Fachkräfte arbeiten als noch im Jahr 2007. Damit hat sich die Zahl der Fachkräfte mehr als verdoppelt. In der gleichen Zeit ist die Zahl der betreuten Kinder um 20 Prozent gestiegen. Jetzt kommen geflüchtete Kinder aus der Ukraine dazu. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir dafür schnell und einfach die Zahl der Fachkräfte erhöhen könnten. Das ist aber nicht realistisch. Und deshalb braucht es Antworten, die auch zahlenmäßig geeignet sind, die anstehende Herausforderung zu bewältigen.“

Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung

Auch bei der Erfüllung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung seien weder Finanzierung und noch viel weniger die personelle Ressourcenfrage geklärt. „Die Umsetzung dieses Rechtsanspruchs muss an die Realitäten angepasst werden“, macht Jäger deutlich. „Es kann nicht sein, dass Bund und Länder durch neue Qualitätsstandards den ohnehin bestehenden Mangel an pädagogischen Fachkräften weiter verschärfen. Gesetzliche Regelungen müssen auch in der Praxis erfüllbar sein. Als Gemeindetag weisen wir daher deutlich darauf hin, dass der Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung in der Grundschule von Bund und Ländern beschlossen wurde. Die kommunalen Schulträger sehen daher auch Bund und Land in der vorrangigen Verpflichtung, diesen zum Gelingen zu bringen. Sollten die kommunalen Schulträger für die Erfüllung dieses Rechtsanspruchs in Anspruch genommen werden, müssen dafür die entsprechenden personellen und finanziellen Rahmenbedingungen geschaffen werden.“

Energiewende und Energiesicherheit

„Bei der Umsetzung der Energiewende und insbesondere beim Ausbau der Erneuerbaren Energien wird es ebenfalls darauf ankommen, klare und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Ohne die Anpassungen der bestehenden rechtlichen Hürden bei Denkmalschutz, beim Arten- und Umweltschutz und bei plebiszitären Verhinderungsmöglichkeiten wird der gewünschte Erfolg nicht eintreten. Denn am Ende werden diejenigen, die ein Windrad oder eine Freiflächen-PV-Anlage ablehnen, ihre rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen. Das ist in einem Rechtsstaat auch legitim. Deshalb ist der Gesetzgeber gefordert, den Rahmen so zu gestalten, dass erforderliche Infrastruktur rechtlich auch durchgesetzt werden kann. Und es bedarf einer klugen Anreizsetzung für Kommunen und Bürger, um bei der oftmals schweigenden Mehrheit eine Stimmung für den Ausbau Erneuerbarer Energien zu erzeugen.“

Fortschreibung Landesentwicklungsplan

„Auch mit der angekündigten Fortschreibung des Landesentwicklungsplans hat sich der Landesvorstand beschäftigt. Es gibt zahlreiche Hinweise aus den Mitgliedskommunen des Gemeindetags, die belegen, dass die zwischenzeitlich seit mehr als 20 Jahren geltenden Vorgaben des aktuellen Landesentwicklungsplans die kommunale Entwicklung hemmen. Ein neuer Landesentwicklungsplan muss daher das zwischenzeitliche Bevölkerungswachstum berücksichtigen. Und er muss die Grundlage dafür schaffen, dass der erforderliche Transformationsprozess unserer Wirtschaft erfolgreich abgebildet werden kann. Dies gelingt aber nur, wenn man Fläche für neue und innovative Branchen anbieten kann, ohne dass dazu bestehende Arbeitsplätze aufgegeben werden müssen. Es wird daher unvermeidlich einen Bedarf für mehr Gewerbeflächen geben. Hier eine gute Verteilung zwischen urbanen und ländlichen Räumen zu gestalten, ist eine wesentliche Grundlage für die Zukunftsfähigkeit des Landes der Weltmarktführer.“

Zugleich betonte der Landesvorstand, es müssten die Kommunen von verzichtbaren bürokratischen Hürden und überbordenden haftungsrechtlichen Verantwortungen entlastet werden. Nur dann können die Städte und Gemeinden ihre Kräfte bündeln und auf die Gestaltung einer guten Zukunft ausrichten“, fasst Jäger die Beratungen des Gremiums zusammen. Der Gemeindetagspräsident abschließend: „Daher wünsche ich uns Baden-Württembergern zu unserem 70. Landesjubiläum, dass wir gemeinsam die Kraft aufbringen können, eine neue und stabile politische Bedürfnispyramide aufzubauen. Die Städte und Gemeinden sind dazu bereit.“