
Naturschutz ohne Balance
In Baden-Württemberg gibt es besonders viele Streuobstwiesen. Was heute oft als landschaftlich schön empfunden wird, hatte einst einen praktischen Nutzen: Sie versorgten die Bevölkerung mit Obst. Deshalb wurden sie meist nahe an Siedlungen angelegt, wo sie vielerorts die Landschaft bis heute prägen, auch wenn ihre wirtschaftliche Bedeutung zurückgegangen ist. Mit der Ausdehnung der Siedlungen wurden Streuobstwiesen zunehmend zu Bauentwicklungsland. Umweltschutzorganisationen wie der NABU kritisieren diese Entwicklung seit langem und betonen ihren ökologischen Wert als Lebensraum bedrohter Arten, zur Förderung der Biodiversität und für die Klimaregulation. Zuweilen setzt sich der NABU sehr vehement für die Streuobstlandschaft ein. Wie deutlich, zeigte sich im vergangenen Jahr in Weil der Stadt im Landkreis Böblingen, als es nach der Rodung einer Streuobstwiese für ein neues Wohngebiet zum Eklat kam.
Die Stadt begann die Fällarbeiten am Montagmorgen, nachdem das Verwaltungsgericht Stuttgart am Freitag zuvor die Beschwerde der Naturschutzverbände abgelehnt und die Rodung somit erlaubt hatte. Noch am Freitag legte der NABU zwar eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) ein, diese entfaltete jedoch keine aufschiebende Wirkung. Daher begann am darauffolgenden Montag die rechtmäßige Fällung, die dann um kurz nach 10 Uhr durch eine vorübergehende Anordnung des VGHs wieder gestoppt und durch die Stadt sofort eingestellt wurde.
Bürgermeister in medialem Feuer
Der NABU kritisierte die Kommune daraufhin in der Öffentlichkeit scharf. In sozialen Medien und der Presse warf er der Stadt vor, die Rodung rechtswidrig durchgeführt zu haben. Es wurde behauptet, der VGH hätte die Rodung bereits zuvor, nämlich am Freitag, untersagt. Der SWR berichtete und selbst das Tagesschau-Portal griff die NABU-Aussagen ungeprüft auf. Bürgermeister Christian Walter geriet zur Zielscheibe der Empörung: Johannes Enssle, Landesvorsitzender des NABU, forderte öffentlich seinen Rücktritt, selbst Umweltministerin Thekla Walker zeigte sich „irritiert“ über das Vorgehen der Stadtverwaltung.
Walter wurde von den Ereignissen überrollt. Das grundsätzliche Problem: Die Presseberichte und Aussagen des NABU waren aus Sicht der Stadtverwaltung schlichtweg falsch. Die Rodung war zu ihrem Zeitpunkt rechtmäßig; die Genehmigung war vollziehbar. „Ich bin von dem Verhalten der Naturschutzverbände entsetzt. Ich hatte eine hohe Meinung von ihnen, da sie eine wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen“, erklärt der 34-jährige Rathauschef, der seit 2020 Bürgermeister der Stadt mit rund 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ist und das schon damals weit fortgeschrittene Projekt Häugern-Nord übernommen hat – just in jenem Jahr, in dem die Landesregierung den neuen „Streuobstparagraf“ einführte. „Was den Fall des bei uns geplanten Wohngebiets angeht, haben für mich die Verbände jegliches Maß und jede Mitte verloren.“
Die Planung des Wohngebiets ist in Weil der Stadt längst keine neue Geschichte mehr. Walter betont, dass die Entscheidung dafür bereits 2017 im Gemeinderat fiel und seitdem transparent kommuniziert wurde. Das Wohngebiet umfasst 370 Wohneinheiten für etwa 800 Bewohner auf 10,8 Hektar, nur circa 600 Meter Luftlinie vom S-Bahn-Anschluss entfernt. Es soll dringend benötigten Wohnraum schaffen und setzt in vielen Belangen auf Nachhaltigkeit, etwa mit viel Grün und Energiekonzepten mit Geothermie, Sektorenkopplung und Photovoltaik. Weil der Stadt hat umfassende Ausgleichsmaßnahmen umgesetzt, darunter die Anbringung von 40 Nist- und Fledermauskästen, wodurch unter anderem die Sicherung der ökologischen Funktionen der Wiese gewahrt bleibt. Zudem wurden bereits 284 neue Obstbäume gepflanzt. Das entspricht einem Verhältnis von 1 zu 2. Für jeden gefällten Baum wurden also an anderer Stelle zwei neue gepflanzt. Alle Maßnahmen wurden penibel in Abstimmung mit den Naturschutzbehörden umgesetzt. „Zu den umfangreichen Ausgleichsmaßnahmen hört man von den Naturschutzverbänden kein Wort! Da wird nur so getan, als würde eine Streuobstwiese ersatzlos wegfallen“, beklagt Walter.
Nachhaltiges Neubaugebiet wird verhindert
Die Auseinandersetzung zwischen Weil der Stadt und dem NABU spiegelt einen breiteren Konflikt wider, den das Umweltministerium bereits aufgegriffen hat. Um die Interessen von Kommunen und Naturschutzverbänden zu verbinden, moderierte es runde Tische, bei denen Konsens gesucht wurde. Diese mündeten in Leitfäden und Anwendungserlasse, die klare Vorgaben für die Umwandlung von Streuobstwiesen und Ausgleichsmaßnahmen schaffen sollten. Dennoch will der NABU mit seinen Aktionen das Wohngebiet in Weil der Stadt verhindern – und „schreckt auch nicht davor zurück, unwahre Tatsachenbehauptungen aufzustellen“, so Walter.
„Die Naturschutzverbände sagen selbst, dass sie das Neubaugebiet um jeden Preis verhindern wollen und Weil der Stadt für sie ein Präzedenzfall ist“, sagt Walter. Die Verzögerungen durch Klagen und Einsprüche hätten die Projektkosten bereits stark erhöht, besonders durch zusätzliche Gutachten. „Mit jedem Jahr, das wir später bauen, steigen die Baukosten weiter. Das verursacht erhebliche Mehrkosten für die Stadt.“
Die Naturschutzverbände nutzen laut Walter gezielt späte Einsprüche, um Verfahren zu verzögern – eine Strategie, die sie regelmäßig anwenden. Der NABU legte seinen Widerspruch kurz vor Fristende ein und reichte die Beschwerdebegründung am VGH erst am letzten zulässigen Tag nach. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs wird frühestens im Februar erwartet; die Umwandlungsgenehmigung war schon im Juli 2024 erteilt worden.
Bürgermeister Walter betont, dass die Stadt wegen ihrer topografischen Lage und des hohen Anteils an Schutzgebieten kaum andere Erweiterungsmöglichkeiten habe. „Über 50 Prozent unserer Gemarkung haben einen Schutzstatus. Es gibt keine vergleichbaren Flächen, die entwickelt werden können.“ Gleichzeitig sei die Wohnraumnachfrage enorm. „In einem Neubaugebiet bewerben sich hier auf einzelne Grundstücke in der Regel zehn bis 15 Parteien.“ Weil der Stadt ist ein regionalplanerisches Unterzentrum und ein Siedlungsschwerpunkt entlang der S-Bahn-Achse.
Walter kritisiert das Verhalten des NABU als überzogen. „Der Gesetzgeber muss sich fragen, ob das Verbandsklagerecht, wenn es so offensichtlich missbraucht wird, auf eine Instanz beschränkt werden sollte, um Verfahren zu beschleunigen und gleichzeitig das Rechtsschutzinteresse zu wahren.“ Für ihn sei eine Balance zwischen berechtigten Naturschutzinteressen und effizienter Planung nötig.
Gegen Falschaussagen des NABU und irreführende Berichte ist Walter im Übrigen juristisch vorgegangen. Der SWR änderte seine Berichterstattung, nachdem Vorwürfe gegen die Stadt widerlegt wurden. „Es geht schon in Richtung Meinungsjournalismus, wenn Formulierungen suggerieren, die Stadt hätte gegen geltendes Recht verstoßen, ohne nachzufragen“, sagt der Rathauschef enttäuscht. Das Wohnbauprojekt bleibt durch den erneuten Einspruch des NABU weiter in der Schwebe. Ein Baubeginn ist weiterhin ungewiss.
Anmerkung der Redaktion:
Der obige Artikel erschien im Magazin die:gemeinde im Februar 2025. Inzwischen gibt es ein Update (17.2.2025):
Am 13. Februar 2025 hat der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Beschwerden des NABU und eines weiteren Naturschutzverbandes gegen die Umwandlungsgenehmigung für das Baugebiet Häugern-Nord vollumfänglich zurückgewiesen. Die Entscheidung ist unanfechtbar.
Damit wurde bestätigt, dass die Genehmigung zur Umwandlung eines Streuobstbestandes in Bauland voraussichtlich rechtmäßig erteilt wurde und die Stadt Weil der Stadt weder die ökologischen Voraussetzungen noch die Notwendigkeit neuer Wohnflächen falsch bewertet hat. Auch die umfangreichen Ausgleichsmaßnahmen wurden vom Gericht als ausreichend anerkannt. Die endgültige Klärung erfolgt im Hauptsacheverfahren, falls die erhobenen Widersprüche von den Naturschutzverbänden aufrecht erhalten werden.
Der Beschluss des VGH folgt den Behauptungen der Naturschutzverbände also in keinem Punkt. „Weder wurde der Bestand falsch beurteilt, noch sind die umfangreichen Ausgleichsmaßnahmen unzureichend“, erklärt Bürgermeister Christian Walter. Auch die alternative Wahrheit, es gäbe gar keinen Wohnraummangel, verfing laut Walter vor Gericht nicht. „Zudem wurde richterlich bestätigt, dass es auf unserer Gemarkung schlicht keine sinnvolle alternative Fläche gibt. Die Genehmigung wurde höchstrichterlich in Gänze bestätigt; die Beschwerden waren unbegründet.“
Ob die verbleibenden Bäume nun kurzfristig noch im Februar gefällt werden können, hängt von der Abstimmung mit der Naturschutzbehörde ab. Unklar bleibt zudem, ob die Verbände den Bebauungsplan juristisch angreifen werden, was eine erneute Verzögerung des Projekts bedeuten könnte.