Kritik am EU-Vergaberecht
Dem großen Investitionsstau in der Infrastruktur des Landes soll nun endlich entschlossen begegnet werden. Schulen, Kitas, Straßen und veraltete Sporthallen warten vielerorts auf Sanierung oder Neubau.
Verpufft der „Bauturbo?“
Zuletzt wurde mit dem sogenannten „Bauturbo“ ein Maßnahmenpaket beschlossen, das Verfahren vereinfachen und Planungs- sowie Genehmigungsprozesse beschleunigen soll. Auch in Baden-Württemberg wurden neue Regelungen eingeführt, die darauf abzielen, Ausschreibungen mit weniger Bürokratie und kürzeren Fristen umzusetzen – insbesondere in Vergabeverfahren.
Damit sollten Kommunen und öffentliche Auftraggeber handlungsfähiger werden und Projekte schneller auf den Weg bringen können. Schließlich dauern gerade öffentliche Bauprojekte in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger oft viel zu lange – von der ersten Planung bis zum Spatenstich vergehen nicht selten Jahre. Der politische Wille, hier mehr Tempo zu machen, ist deutlich.
Neue Grenzwerte im EU-Vergaberecht ab Januar
Doch nun drohen neue europäische Vorgaben zur Absenkung der EU-Schwellenwerte diesen Fortschritt auszubremsen. Die Europäische Kommission hat beschlossen, die Schwellenwerte für die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen ab dem 1. Januar 2026 zu senken.
Ab diesem Zeitpunkt gelten für klassische öffentliche Aufträge neue Grenzen: 5,404 Millionen Euro für Bauaufträge, 216.000 Euro für Dienst- und Lieferaufträge sonstiger öffentlicher Auftraggeber sowie 140.000 Euro für Dienst- und Lieferaufträge oberer beziehungsweise oberster Bundesbehörden. Für Aufträge nach der Sektorenrichtlinie sowie im Bereich Verteidigung und Sicherheit gilt für Bauleistungen ebenfalls 5,404 Millionen Euro, für Liefer- und Dienstleistungen 432.000 Euro.
Diese Werte sind gegenüber den vorhergehenden Zweijahresperioden leicht gesunken. Die Anpassung erfolgt regelmäßig alle zwei Jahre durch die Welthandelsorganisation (WTO) im Rahmen des Abkommens „Agreement on Government Procurement (GPA)“ – es handelt sich also nicht um eine politische Entscheidung der EU, sondern um ein formalisiertes, rechnerisches Verfahren.
Für die Kommunen im Land ist diese Entwicklung besonders relevant. Das kommunale Vergaberecht regelt, wie Städte, Gemeinden und Landkreise Aufträge für Bau-, Liefer- und Dienstleistungen vergeben dürfen. Als öffentliche Auftraggeber müssen sie Transparenz, Wettbewerb und Wirtschaftlichkeit sicherstellen und ihre Aufträge nach klaren rechtlichen Verfahren ausschreiben – eine freie Vergabe ist nicht möglich.
Längere Fristen und viel mehr Bürokratie
Grundlage sind in Deutschland vor allem das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), die Vergabeverordnung (VgV), die Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) und – bei Bauleistungen – die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB/A). Welche Vorschriften konkret gelten, hängt vom Auftragswert ab: Liegt dieser über den EU-Schwellenwerten, gilt das EU-Vergaberecht; liegt er darunter, greifen nationale beziehungsweise landesrechtliche Regeln. Ziel des kommunalen Vergaberechts ist es, dass Steuergelder wirtschaftlich, transparent und rechtssicher eingesetzt werden.
Das EU-Vergaberecht verlangt beispielsweise eine europaweite Bekanntmachung (im Amtsblatt der EU / TED-Datenbank), längere Fristen für Angebote, formalisierte Verfahrensarten (etwa das offene oder das Verhandlungsverfahren), umfangreiche Dokumentations- und Begründungspflichten sowie strenge Transparenz- und Gleichbehandlungsanforderungen. Diese Regeln sollen den Wettbewerb im Binnenmarkt fördern – also Unternehmen aus allen EU-Staaten den Zugang zu Aufträgen ermöglichen.
Für Städte, Gemeinden oder kommunale Unternehmen bedeutet das: Wenn sie Bau-, Liefer- oder Dienstleistungen vergeben, müssen sie prüfen, ob der geschätzte Auftragswert über dem jeweiligen EU-Schwellenwert liegt – etwa 5,404 Millionen Euro bei Bauaufträgen ab 2026. Liegt er darüber, müssen sie europaweit ausschreiben, auch wenn sie wissen, dass voraussichtlich nur regionale Firmen bieten werden.
Plant eine Kommune beispielsweise den Neubau einer Kita für 5,6 Millionen Euro, dauert folglich das Verfahren dauert in der Regel mehrere Wochen länger, verursacht mehr Bürokratie, übersetzte Unterlagen und höhere rechtliche Anforderungen. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein Anbieter aus Spanien oder Polen tatsächlich mitbietet – häufig sind ohnehin regional tätige Unternehmen bei solchen Projekten aktiv.
Gemeindetag: „Eindeutig die falsche Richtung“
Kommunale Spitzenverbände wie der Gemeindetag Baden-Württemberg kritisieren daher die Absenkung der Schwellenwerte und das gesamte Verfahren deutlich. Für die Kommunen sei dies „eindeutig die falsche Richtung“, urteilt Christian Manz, der beim Gemeindetag Baden-Württemberg für das Vergaberecht zuständig ist. Er warnt vor den Konsequenzen: mehr Bürokratie, längere Verfahren und damit eine Verzögerung beim Ausbau wichtiger kommunaler Infrastruktur. „Gerade jetzt brauchen wir einfachere und schnellere Verfahren für den Ausbau der Infrastruktur“, so Manz.
Forderung nach deutlicher Anhebung
Bereits im März hatten die kommunalen Spitzenverbände ein Positionspapier vorgelegt und eine Erhöhung der Schwellenwerte gefordert – statt einer Absenkung. Manz sagt: „Diese Forderung vertreten wir nach wie vor.“ In ihrem Papier schlugen die Verbände vor, den Schwellenwert für öffentliche Bauvergaben auf mindestens 10 Millionen Euro und für Liefer- und Dienstleistungen auf mindestens 750.000 Euro anzuheben.
Manz stellt den Nutzen europäischer Vergabeverfahren für viele Kommunen infrage: „Der Nutzen dafür steht häufig in keinem Verhältnis zum Aufwand.“ Er verweist darauf, dass die EU selbst zugibt, dass nur rund drei Prozent aller Angebote bei EU-weiten Ausschreibungen von Bietern aus dem Ausland kommen. „Einen grenzüberschreitenden Vergabemarkt gibt es wegen der oft regionalen Prägung weiterhin nicht“, so der Kommunalvertreter.
Besonders kritisch bewertet Manz die Entscheidung im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen der Kommunen: „Die Absenkung der Schwellenwerte kommt in Zeiten, in denen wir über einfachere und schnellere Verfahren für Infrastrukturmaßnahmen, Kita- und Schulbau, Wohnungsbau und Klimafolgenanpassung sprechen. Da müssen wir wirklich vorankommen. Umso schwerer wiegt es, dass die Anpassung der EU-Schwellenwerte jetzt in die falsche Richtung geht.“
