
Kommunale Belastungsgrenze erreicht
Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, warnt vor einer immer weiter zunehmenden Überlastung der Kommunen. In einem Interview mit dem Staatsanzeiger spricht er von einer dramatischen Lage und fordert ein Umdenken in der Politik, um Anspruch und Realität besser in Einklang zu bringen.
Finanzielle und organisatorische Herausforderungen
Die finanziellen Spielräume vieler Kommunen sind erschöpft: 80 bis 90 Prozent der Städte und Gemeinden rechnen auch 2025 nicht mit einem ausgeglichenen Haushalt. Ab 2026 werde es für viele Kommunen kaum noch möglich sein, ihre Aufgaben ohne erhebliche neue Schulden zu erfüllen. Jäger betont, dass es ein bundesweites Problem sei, dass der Staat weiterhin neue Aufgaben definiert, ohne für deren Umsetzung ausreichend finanzielle Mittel bereitzustellen. „Die Kluft zwischen politischen Versprechen und den tatsächlichen Ressourcen vor Ort wird immer größer“, kritisiert er im Staatsanzeiger-Interview.
Bereits 2022 hatten sich die drei Kommunalverbände und fünf Wirtschaftsverbände in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten gewandt, um auf die wachsende Bürokratiebelastung aufmerksam zu machen. Zwar sei mit der sogenannten Entlastungsallianz in Baden-Württemberg ein erster Schritt gemacht worden, doch grundsätzliche Reformen blieben aus. Jäger sieht hier dringenden Handlungsbedarf: „Wir brauchen klare Vereinfachungen, statt immer neuer Vorgaben. Es hilft nicht, wenn wir ein Regelungsabweichungsgesetz bekommen, das nur auf Landesebene greift, aber viele fachrechtliche Regelungen weiterhin unangetastet lässt.“
Realistische Erwartungshaltung
Ein weiteres Problem sei der Umgang mit neuen Leistungszusagen. Jäger kritisiert insbesondere das Vorgehen bei der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule. „Auch in der Kommunalpolitik erkennt man den Bedarf an Ganztagsbetreuung in der Grundschule. Aber ein paradoxerweise im SGB VIII geregelter Anspruch, der an die Landkreise adressiert, ist dazu der falsche Weg“, so Jäger. Die Umsetzung des Rechtsanspruchs ohne ausreichende Finanzierung und Personalplanung vergrößere das Finanzierungsdelta der Kommunen um mehrere Hundert Millionen Euro jährlich. Jäger fordert daher eine realistischere Politik, die sich stärker an den tatsächlichen Umsetzbarkeiten orientiert.
Auch in der Sozialpolitik plädiert Jäger für ein Umdenken: „Es geht nicht darum, Sozialleistungen infrage zu stellen, sondern genauer zu prüfen, wo wirklich Hilfe gebraucht wird und wo möglicherweise Mitnahmeeffekte entstehen.“ Deutschland sei eines der Länder mit der höchsten Umverteilungsquote in Europa, dennoch sei die Zufriedenheit mit staatlichen Leistungen auf einem Tiefpunkt. „Wir brauchen eine ehrliche Debatte darüber, was der Staat leisten kann – und was nicht“, fordert er.
Fehlende Zeitenwende
Mit Blick auf die auslaufende Legislaturperiode des Deutschen Bundestags äußert sich Jäger kritisch: „Im Rückblick auf die auslaufende Legislatur des Deutschen Bundestags müssen wir aus kommunaler Perspektive klar benennen, dass eine Zeitenwende jedenfalls hinsichtlich der staatlichen Leistungszusagen nicht erfolgt ist. Wie schon in den Jahren zuvor wurden weiter munter neue Aufgaben, Leistungsansprüche und neue politische Versprechen formuliert. Dem Bürger wurde weiterhin vermittelt, dass der Staat sich um alles kümmert. Dass er dazu jedoch nicht imstande ist, zeigt die dramatische Lage bei den Kommunalfinanzen.“
Er fordert eine umfassende Neuausrichtung, die über die Bundestagswahl hinaus Bestand haben müsse: „Dazu zählt aus Sicht der Städte und Gemeinden, dass Bundestag und Bundesregierung sich zunächst auf die Kernaufgaben des Staates fokussieren, um dadurch die Zukunftsfähigkeit unseres volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens zu gewährleisten. Dazu gehört es auch, den Fürsorgestaat dahingehend zu überprüfen, wo es unabweisbare Hilfebedarfe gibt und wo möglicherweise Mitnahmeeffekte generiert werden. Eine Gesellschaft kann nur dann erfolgreich sein, wenn jeder das zu ihrem Gelingen beiträgt, zu dem er imstande ist. Und deshalb braucht Deutschland eine neue Kultur der Eigenverantwortung und ein ehrliches politisches Erwartungsmanagement. Weniger Versprechen, dafür aber mehr Umsetzen!“
Kommunale Anliegen ernst nehmen
Jäger mahnt eine bessere Einbindung der Kommunen in politische Entscheidungsprozesse an. „Es kann nicht sein, dass Kommunen immer wieder von gravierenden Entscheidungen betroffen sind, ohne dass sie zuvor angemessen gehört wurden.“ Insbesondere in der Migrations- und Sozialpolitik sieht er hier Nachholbedarf. Die kommunale Ebene sei es, die viele politische Entscheidungen umsetzen müsse, doch in den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern würden ihre Stimmen oft übergangen.
Der Gemeindetagspräsident fordert daher einen langfristigen Kurswechsel: „Wir brauchen eine neue Kultur der Eigenverantwortung und ein ehrliches politisches Erwartungsmanagement. Weniger Versprechen, dafür aber mehr Umsetzen.“
Ob die Landes- und Bundespolitik auf diese Forderungen eingeht, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch: Die Kommunen sehen sich zunehmend am Limit.