© Adobe Stock

Der Fall Tübingen: Droht ein flächendeckender Kita-Kollaps?

Die Betreuungskrise in den Kindertagesstätten verschärft sich. Die Universitätsstadt Tübingen zieht Konsequenzen und passt ihre Öffnungszeiten im kommenden Kindergartenjahr an. Es droht ein Domino-Effekt beim Fachkräftemangel und ein Rückfall in alte Rollenmodelle.

Es ist der bisherige Höhepunkt einer dramatischen Entwicklung: Die Stadt Tübingen hat vor wenigen Tagen verkündet, die Öffnungszeiten in den städtischen Kitas ab dem Kindergartenjahr 2023/2024 zu verändern. Als Begründung führt die Stadt den Fachkräftemangel an. 86 Stellen würden derzeit fehlen. Am Tag vor der Verkündung hatte Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) einen Brief an Kultusministerin Theresa Schopper geschrieben, in dem er an sie appellierte, Zusatzkräfte ohne Einschränkung in den Kitas arbeiten zu lassen.  

Tübingen verändert Öffnungszeiten auf Grundlage von Zählung 

In Tübingen wird ab dem kommenden Jahr die Betreuungszeit in 50 Kindergartengruppen bereits um 13.15 Uhr enden, was einen Elternteil de facto zu einem Halbtagsjob verdonnert. Allerdings kompensiert die Stadt dies ein wenig. Denn Abholzeiten bis 16.30 Uhr und vor allem bis 17.30 Uhr seien bislang wenig nachgefragt worden. Das Angebot einer Betreuungszeit bis 15.30 Uhr wird sogar ausgeweitet. Bislang wurde es in sechs Gruppen angeboten, bald sollen 35 Gruppen davon profitieren. Die Stadt orientiert sich bei der Neueinteilung an der tatsächlichen Nachfrage. Grundlage dafür ist eine Zählung aus dem Jahr 2019. Daraus war hervorgegangen, dass nur elf Prozent der Eltern ein Betreuungsangebot bis 17.30 Uhr tatsächlich wahrnehmen.  

Kita-Kollaps und Domino-Effekt beim Fachkräftemangel 

Im Brief an Kultusministerin Schopper räumt Palmer ein, dass es volkswirtschaftlich keinen größeren „Unsinn“ geben könne als Eltern zur Einschränkung ihrer Berufstätigkeit zu zwingen. Es droht ein Domino-Effekt: Der Fachkräftemangel in den Kitas führt dazu, dass Fachkräfte in anderen Branchen ihre Berufe nur noch begrenzt ausüben können, was die Krise auch in diesen Branchen verschärft. Auch sei ein Rückfall in alte Rollenmodelle zu befürchten. Der Unmut über diese Verhältnisse ist nicht nur in Tübingen groß. Der drohende Kita-Kollaps könnte weitrechende gesellschaftliche, vor allem demografische, Auswirkungen haben. Boris Palmer verweist auf einen Einbruch der Geburtenrate im vergangenen Jahr und auf einen Zusammenhang zwischen verlässlicher Kinderbetreuung und Geburtenrate.

Verdi: Entwicklung ist alarmierend

Als „alarmiernd“ bezeichnet auch die Gewerkschaft Verdi die Entwicklung. Der Gewerkschaft geht es naturgemäß nicht primär um die Gefahr eines gesellschaftlichen Rückfalls in Zeiten, in denen Frauen nicht berufstätig sein durften, sondern um die Arbeitsbedingungen der Erzieherinnen und Erzieher. Denn auch um die ist es nicht gut bestellt.  Zusammen mit der Hochschule Fulda hat Verdi einen Kita-Personalcheck veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass 7,1 Prozent des befragten pädagogischen Personals mit dem Gedanken spielen, das Berufsfeld komplett zu verlassen. „Sogar 27 Prozent erwägen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren – vor allem wegen der hohen Belastung“, schreibt Verdi in einer Pressemitteilung.

Verdi-Personalcheck: 44 Prozent der Erzieher klagen über hohe Belastung 

Weitere Erkenntnisse aus dem Personalcheck: Während rund ein Drittel der Befragten so unglücklich oder gestresst im Job ist, dass sie entweder ganz den Beruf wechseln oder Arbeitszeit reduzieren wollen, könnten 9,3 Prozent sich auch vorstellen, aufzustocken. Allerdings unter der Voraussetzung, dass sich die Bedingungen verbessern. 44 Prozent der pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beklagten in der Umfrage eine insgesamt zu hohe Belastung. Die schlechte Personalsituation führt Verdi unter anderem auf die Bezahlung zurück, die sich allerdings in den vergangenen 15 Jahren deutlich verbessert hat, sowie auf die Arbeitsbelastung.

Verdi: Größere Gruppen führen zu Qualitätsverlust

Forderungen nach Vergrößerung der Gruppen erteilt die Gewerkschaft eine Absage, weil die Betreuungsqualität leiden würde. Der Tübinger Weg, Öffnungszeiten zu reduzieren, sei ebenfalls nur eine Notlösung. Verdi wirbt dafür, die Ausbildung attraktiver zu machen und das pädagogische Personal zu entlasten. Besonders in kleineren Kitas könnten demnach Arbeitskräfte in den Bereichen Verwaltung, Hauswirtschaft und Technik eingesetzt werden, damit sich die Erzieherinnen mehr auf die Betreuung der Kinder fokussieren können. Positiv sei das noch recht neue vergütete, praxisintegrierte Ausbildungsmodell (PiA), das sich vor allem an Quereinsteiger richtet.

Schebesta (CDU): Land arbeitet an Lösungen 

Kultus-Staatssekretär Volker Schebesta (CDU) sagt unterdessen, dass das Land bereits an Lösungen arbeite. „Wir versuchen bei allen unseren Maßnahmen die Balance zu halten zwischen der Belastung der Erzieherinnen und Erzieher sowie dem Betreuungsbedarf der Eltern. Denn es hilft uns nicht, wenn wir das belastete Personal zugunsten längerer Öffnungszeiten strapazieren und sie dadurch das Berufsfeld verlassen“, sagte Schebesta.