Das Projekt "Caring & Sharing Community" soll für mehr generationengerechte Quartiere in den Kommunen sorgen
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Generationengerechte Quartiere: Gemeinschaften, die sich umeinander kümmern

Wo kann ich wie gepflegt werden, wenn der Bedarf auftritt? In vielen Kommunen gibt es dazu aktuell noch keine Antwort. So auch in Berghaupten. Deshalb nimmt die Gemeinde an dem Pilotprojekt „Caring & Sharing Community“ teil.

In Berghaupten gibt es aktuell keine Möglichkeiten für ältere Menschen und andere Menschen mit diesem Bedarf, sich vor Ort pflegen zu lassen. Es gibt kein Pflegeheim und keine betreuten Wohnkonzepte. Nachdem die Kommune zwei Jahre lang an einem Konzept für barrierefreies, soziales Wohnen gearbeitet hat, hat sich der Gemeinderat doch dagegen entschieden. Trotzdem muss eine Lösung her. 

„Ich sehe das, wenn ich die älteren Menschen zu ihren Geburtstagen besuche, besonders bei der Altersgruppe 85-plus“, erzählt Philipp Clever, Bürgermeister der Gemeinde Berghaupten. „Viele Menschen machen sich im Vorfeld keine großen Gedanken darüber, wie und wo sie später einmal gepflegt werden möchten. Dann ist die Notwendigkeit plötzlich da und man muss von heute auf morgen aus seiner gewohnten Umgebung wegziehen. Viele Menschen hier in Berghaupten gehen dann in die nächstgelegenen Kommunen. Die meisten nach Gengenbach.“ Das kann aber nicht der Anspruch der Gemeinde sein, findet der Bürgermeister.

Die Menschen sollen hier so lange leben können, wie sie möchten.

Philipp Clever, Bürgermeister der Gemeinde Berghaupten

Philipp Clever, Bürgermeister der Gemeinde Berghaupten, über den Versuch mit Caring & Sharing Community ein generationengerechtes Quartier zu schaffen

Projekt "Caring & Sharing Community" will generationengerechte Quartiere schaffen

Deshalb nimmt Berghaupten auch als Pilotkommune an dem Projekt „Caring & Sharing Community“ teil. Das Projekt soll über verschiedene Beteiligungsverfahren zu einem individuell auf die Kommune zugeschnittenen Konzept führen, das generationengerechtes Wohnen, Betreuungsmodelle und bürgerschaftliches Engagement schafft. In einem Erasmus-geförderten Modellprojekt wurde in Italien, Österreich und Deutschland ein Konzept erarbeitet, das Caring & Sharing Communities ermöglichen soll. „Wir haben unter anderem ein Curriculum entwickelt, mit dem wir Teams schulen und begleiten, die vor Ort für die Strukturen sorgen, um Begegnungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangebote zu entwickeln“, erklärt Ingrid Engelhart, Geschäftsführerin der Studiengesellschaft für Projekte zur Erneuerung der Strukturen (SPES). Hauptziel ist es, älteren Menschen und anderen Menschen mit Pflegebedarf zu ermöglichen, so lange wie möglich selbstbestimmt zu Hause leben zu können. 

Vorbereitungsphase soll möglichst viele Akteure mobilisieren

Das Projekt ist pro Kommune auf anderthalb bis zwei Jahre angelegt. Es beginnt mit einer Vorbereitungsphase. In dieser wird ein kleines Vorbereitungsteam aus interessierten Bürgerinnen und Bürgern gebildet. Es folgen verschiedene Beteiligungsformate, die der Bedarfsermittlung und gleichzeitig der Aktivierung der Akteure vor Ort dienen sollen. So zum Beispiel eine Informationsveranstaltung für alle Stakeholder. Aber auch aufsuchende Zielgruppengespräche, um das Thema schon vor dem eigentlichen Prozessauftakt in die Breite zu tragen, möglichst viele Menschen dafür zu sensibilisieren und als Freiwillige zu gewinnen – darunter auch Personengruppen, die sich bisher noch kaum mit dem Thema befasst haben. "Im Prinzip geht es darum, mit verschiedenen Veranstaltungen am Ende alle Menschen vor Ort zu erreichen und im besten Fall einige wertvolle Kooperationen aufbauen zu können“, sagt Ingrid Engelhart. 

Nachbarschaftsgespräche runden die Bedarfsanalyse ab

Als nächstes folgen sogenannte Nachbarschaftsgespräche. Dafür treffen sich Freiwillige – die zuvor durch Prozessbegleitende von SPES geschult wurden – mit älteren Menschen zu 1:1-Gesprächen, um von ihnen zu erfahren, welche Bedarfe es aus ihrer Sicht gibt. „Die Nachbarschaftsgespräche sollen bei älteren Menschen den Eindruck vermeiden, dass ein Defizit ihrerseits problematisiert werden muss. Stattdessen soll  ressourcenorientiert darauf geschaut werden, was vor Ort fehlt und ausgebaut werden muss“, erklärt Engelhart. „Wir können uns auch eine Verstetigung der Nachbarschaftsgespräche, zum Beispiel ein Mal im Jahr, vorstellen. Damit könnte man auch darauf reagieren, wenn Menschen von Einsamkeit bedroht sind.“ Aus den Ergebnissen all dieser Veranstaltungen wird am Ende eine Bedarfsanalyse erstellt. Die Nachbarschaftsgespräche werden in Berghaupten der nächste Schritt sein. In Deutschland gibt es mit dem Format also noch keine Erfahrung. „In Österreich wurden schon Nachbarschaftsgespräche durchgeführt und dort hat sich gezeigt, dass es sowohl viele Menschen gibt, die Interesse haben, zu helfen, als auch viele ältere Menschen, die sich gerne befragen lassen und ihre Ideen ins Projekt einbringen wollen“, erzählt Ingrid Engelhart. 

Aktivierung funktioniert nicht in allen Gruppen gleich gut

In Berghaupten hat sich schnell ein Vorbereitungsteam aus sieben Freiwilligen gefunden, dem sich bereits eine achte angeschlossen hat. Die weitere Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger hat bei der Zielgruppe Männer begonnen. „Wir haben mit dem Vorbereitungsteam ein Männer-Vesper organisiert, weil die Männer im Projekt bislang nicht repräsentiert waren“, erzählt Bürgermeister Clever. „Dabei sind ein paar gute Ideen diskutiert worden. “ So zum Beispiel, dass bei der Impulsveranstaltung ein unterhaltsames Rahmenprogramm viele Interessierte anlocken könnte. Dass die Jugendlichen zu dem Thema Caring & Sharing noch wenig Zugang haben, zeigte der Versuch einer Veranstaltung namens „Pizza.Quizzn.Quasseln“, bei der sich die Gemeinde um Pizza und Unterhaltung gekümmert hätte, um gleichzeitig die Meinung und Wünsche der Jugendlichen und jungen Erwachsenen abzuholen. „Wir hatten bis zuletzt keine Anmeldung“, erzählt Philipp Clever. „Eine der Prozessbegleiterinnen ist selbst auf den Bereich der Jugendbeteiligung spezialisiert und hat mir bestätigt, dass es sehr schwer ist, die Jugend für dieses Thema zu aktivieren.“

Impulsveranstaltung präsentiert die Pläne für eine Caring & Sharing Community

Dass sich acht Freiwillige für die Arbeit am Projekt gemeldet haben, sei ein guter Start, sagt der Bürgermeister. Das Vorbereitungsteam plant als nächstes – neben den Nachbarschaftsgesprächen - eine große Impulsveranstaltung, bei der das Projekt allen Berghaupterinnen und Berghauptern vorgestellt werden soll. Dazu werden auch eine Tanzgruppe und der Schulchor auftreten. Während der Impulsveranstaltung werden Best Practice-Beispiele wie die Bürgergemeinschaft Eichstetten oder die Bürgergemeinschaft Oberried vorgestellt. Durch die Veranstaltung sollen möglichst viele Menschen für das Projekt aktiviert werden. Nach der Impulsveranstaltung geht es bei „Caring & Sharing Community“ mit der Bildung von Projektgruppen weiter. Diese sollen sich um die Themen kümmern, die laut der vorher erstellten Bedarfsanalyse wichtig sind. So zum Beispiel Zeitbanken, organisierte Nachbarschaftshilfe oder auch Begegnungsräume. 

Clever investiert viel Zeit in das Ziel eines generationengerechten Quartiers

Aus den Projektgruppen wird je eine Sprecherin oder ein Sprecher in ein Steuerungsteam entsandt. Das Team wird von SPES betreut, um die nötigen bleibenden Strukturen in der Kommune aufzubauen. Das kann eine Bürgergenossenschaft sein, ein Verein oder eine andere bürgerschaftlich getragene Struktur. „Der Mindestanspruch, was dabei für Berghaupten rauskommen sollte, wäre ein Verein, eine Genossenschaft oder eine andere Organisationsform, die Hilfen im haushaltsnahen Bereich anbietet“, sagt Philipp Clever. Der Bürgermeister selbst hat schon viel Zeit in das Projekt investiert. „Mehr als ich übrig habe“, sagt er selbst. „Ich hoffe aber, dass es am Ende gut investierte Zeit ist und dass sich über die Zeit immer mehr Menschen aktiv beteiligen werden.“

Engelhart: Einsamkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem

Wie Philipp Clever ist auch Ingrid Engelhart davon überzeugt, dass es wichtig ist, Zeit in Projekte wie dieses zu investieren. „Ich habe den Eindruck, der Aufbau von sorgenden Gemeinschaften ist eine der dringendsten Herausforderungen in unseren Gemeinden“, sagt sie. „Wir haben den demografischen Wandel verschlafen, obwohl die Entwicklungen schon lange bekannt sind: Die Menschen werden immer älter und dadurch leiden auch immer mehr Menschen an Demenz. Wir haben einen Pflegekräftemangel und gleichzeitig nimmt das familiäre Pflegepotential ab. Doch es fehlt nicht nur an der Pflege. Es braucht vor allem zusätzliche Betreuung im Alltag und Unterstützung im Haushalt, damit die Menschen so lange wie möglich zu Hause leben können. “ Doch nicht nur für die älteren Menschen seien die Caring & Sharing Communities wichtig. Es werden Begegnungsräume für alle benötigt, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. „Das ist ein generationenübergreifender Bedarf“ sagt Engelhart.

Es braucht Angebote zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Gemeinde und zur Begegnung, um unfreiwillige Einsamkeit zu vermeiden – auch das betrifft alle Generationen.

Ingrid Engelhart, Geschäftsführerin der Studiengesellschaft für Projekte zur Erneuerung der Strukturen (SPES)

Ingrid Engelhart, Geschäftsführerin von SPES, über generationengerechte Quartiere im Projekt "Caring & Sharing Community"

Auch wenn das bürgerschaftliche Engagement unabdingbar bleibe, müsse gleichzeitig klar sein, dass die Betreuung und Unterstützung nicht komplett ehrenamtlich erbracht werden können. „Es braucht feste und nachhaltige Strukturen. Und dafür benötigen wir einen Mix vom Ehrenamt bis hin zu versicherungspflichtig Beschäftigten“, ist Engelhart überzeugt. „Wenn es zu Hause nicht mehr geht, sind innovative barrierearme Wohnformen mit Betreuungsmöglichkeit wie z.B. Wohnen mit Service und ambulante Wohngruppen notwendig. Dafür braucht es die Gebäude und Betreuungspersonal. Auch dies kann zu den Aufgaben einer Caring & Sharing Community gehören“