Der Bürgermeister von Spraitbach über die Digitalisierung als Verwaltungsrevolution - digitale Verwaltung im Ländlichen Raum
© Gemeinde Spraitbach

„Digitalisierung ist eine Verwaltungsrevolution“

Bei seinem Dienstantritt als Bürgermeister wurde auf dem Spraitbacher Rathaus ausschließlich mit Bargeld bezahlt. Der Quereinsteiger Johannes Schurr hat in der Gemeinde im Ostalbkreis seither viele digitale Projekte angestoßen. Für ihn steht fest: Digitalisierung ist weit mehr als IT – sie bringt eine Umwälzung der gesamten Arbeitsphilosophie mit sich.

Als Johannes Schurr im Frühjahr 2018 seinen Dienst als Bürgermeister von Spraitbach antrat, musste er erst einmal schlucken. Wer in der kleinen Gemeinde im Ostalbkreis Gebühren zahlen musste, hatte nur eine Option: Bargeld. Für den Quereinsteiger Schurr, der vorher als Vermögensberater bei einer Sparkasse gearbeitet hatte, kam das einem Kulturschock gleich. Eine der ersten Amtshandlungen des neu gewählten Rathauschefs bestand folgerichtig darin, ein EC-Kartenlesegerät anzuschaffen. Als in der Verwaltung das Kartenlesegerät eingeführt wurde, war die Begeisterung groß. Von nun an musste man nicht mehr zur Bank oder Sparkasse, wenn man nicht genug Bargeld dabei hatte. „Unfassbar, dass man mit so etwas für Überraschung sorgt“, schreibt Schurr auf der Internetseite der Gemeinde. Seither ist in Sachen digitale Verwaltung viel passiert in Spraitbach. Der erste Schockmoment hat Schurr angespornt, Prozesse mit Nachdruck zu verändern.

Schurr stößt konstant Projekte für die digitale Verwaltung an

So verweist Schurr unter anderem auf die Einführung eines Ratsinformationssystems (RIS), eines netzwerkgebundenen Dateiservers im Rathauskeller (NAS, kurz für Network Attached Storage), einer elektronischen Zeiterfassung und Urlaubsplanung oder eines Geoportals mit Baum-, Wasser-, Abwasser- und Straßenlaternen-Kataster und vieles mehr. Doch auch vier Jahre nach Dienstantritt stoße er immer wieder auf Prozesse, die umständlicher gehandhabt werden, als sie müssten, sagt Johannes Schurr im Gespräch mit die:gemeinde. „Meistens mache ich mich dann auf die Suche nach Lösungen für Prozesse. Und die finden sich eben meistens im digitalen Bereich, nicht im analogen. Darin besteht schon der ganze Zauber“, so Schurr. Eine der ersten Beschaffungen nach dem EC-Kartenlesegerät für das Rathaus war ein Beamer. „Vorher hatte man die Sitzungen mit Tageslichtprojektor und Folien bestritten“, sagt Schurr. Doch natürlich gab es vor seiner Amtszeit auch sinnvolle digitale Ansätze: So hatte die Gemeinde bereits 2008 ein Dokumentenmanagementsystem (DMS) eingeführt. „Damit war es aber nicht weit her. Man hat es installiert und den Leuten gesagt: „So, das gibt es jetzt, viel Spaß damit!“, erzählt Johannes Schurr. Nach und nach hinterfragte Schurr immer mehr Prozesse. Unter anderem störte ihn, dass für jede Gemeinderatssitzung ein großer Papierstapel produziert werden musste. Deshalb führte er ein Ratsinformationssystem (RIS) ein. Die Reduzierung des Papierverbrauchs ist aus Sicht von Schurr dabei nicht einmal der wichtigste Aspekt. Vielmehr steht für ihn der Informationswert im Vordergrund, den das System allen Beteiligten bietet.

Früher hat man die Tagesordnung ins Amtsblatt eingestellt. Das war alles, was die Menschen wussten. Waren die Tagesordnungspunkte etwas kryptisch formuliert, kam kaum jemand in die Sitzung, weil die Leute nicht wussten, worum es überhaupt geht. Im RIS können wir nicht nur Tagesordnungspunkte veröffentlichen, sondern Inhalte. Das führt dazu, dass noch weniger Menschen in die Sitzungen kommen. Aber aus einem ganz anderen Grund: Nämlich, weil sie bereits umfassend informiert sind.“

Johannes Schurr, Bürgermeister der Gemeinde Spraitbach

Johannes Spraitbach über die digitale Verwaltung als Revolution (c)Gemeinde Spraitbach

Aus einer demokratischen Perspektive sei das überaus wichtig. Über die Weihnachtsfeiertage baute Schurr einen Mängelmelder zusammen, der von den Bürgerinnen und Bürgern auch rege genutzt werde. Über den E-Mail-Dienst des Rathauses kann Schurr Aufgaben, die im Zuge der Meldungen entstehen, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zuweisen. Bereits vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie hatte die Gemeinde einen Server eingerichtet, der mobiles Arbeiten ermöglicht. „Wir können über eine VPN-Verbindung sicher auf alles zugreifen“, sagt Johannes Schurr. Auch ein digitaler Posteingang gehört dazu.

Verwaltung mit Verstand digitalisieren

Das Leitprinzip des Bürgermeisters bei seinen digitalen Projekten ist der Nutzwert, den sie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Bürgerschaft haben. Das im Kontext der Digitalisierung oft vorgetragene Argument, Kommunen könnten durch die Einführung digitaler Prozesse effizienter werden und Kosten einsparen, spielt für Schurr eine eher untergeordnete Rolle. „Man sollte nicht jeden Tag eine Amortisationsrechnung machen und sich fragen, wo man nochmal zehn Minuten einsparen kann“, sagt er. Schurr betrachtet die Sache andersherum. Er fragt sich, wie die Zeit, die durch die digitalen Prozesse frei wird, am besten genutzt werden kann. „Der Einsatz digitaler Lösungen erlaubt es, uns auf Dinge zu konzentrieren, die wirklich unsere Aufmerksamkeit erfordern“, sagt Schurr.

Doch was meint Schurr eigentlich, wenn er von „digitalen Lösungen“ spricht? Die Frage ist nicht so banal, wie sie klingt. Denn der junge Bürgermeister legt großen Wert auf sein Verständnis von Digitalisierung als Umwälzung der gesamten Arbeitsphilosophie hin zu dem, was man Neudeutsch „New Work“ nennt. „Ich bin sowieso davon überzeugt, dass Digitalisierung untrennbar mit der Art und Weise verwoben ist, wie wir arbeiten. Wir müssen aufhören, die Digitalisierung als IT-Projekt zu verstehen. Die Digitalisierung ist eine Verwaltungsrevolution, nichts anderes. Das muss jetzt endlich in die Köpfe rein“, sagt Schurr.

Nächster Schritt: Projektmanagement-Tool für die Verwaltung

Sein nächstes Vorhaben ist eng mit dieser Idee verbunden. Schurr will ein Projektmanagement-System einführen, testet derzeit verschiedene Lösungen. Er will weg von der Ämterstruktur, hin zum Denken und Arbeiten in Projekten. Er ist überzeugt, dass er die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung stärker aktivieren und begeistern kann, wenn jeder und jede ihre Stärken innerhalb eines Projekts einbringen kann. „Begeistern und vorleben statt vorschreiben“ lautet hier seine Devise. Zu New Work gehört aus Sicht Schurrs auch eine gesunde Einstellung zu Fehlern. Fehler sind demnach dazu da, um aus ihnen zu lernen. Diese Fehlerkultur hat er selbst in seiner Zeit als Vermögensberater verinnerlicht. „Das heißt, dass man stark über das eigene Vorgehen reflektiert und nach Selbstoptimierung strebt. Wenn man eine vernünftige Fehlerkultur hat, kann man das eine oder andere ausprobieren und vieles im digitalen Bereich anstoßen, aber eben auch wieder abstoßen, wenn man merkt, dass es nicht funktioniert“, erklärt Schurr.

Schurr: „Wir müssen stärker nach dem Trial-and-Error-Prinzip vorgehen"

Es gibt noch eine weitere Motivation, die Johannes Schurr antreibt: Er will die Digitalisierung in seiner Kommune selbst vorantreiben, statt ein Getriebener der Entwicklungen zu sein.  Doch genau in dieser Rolle sieht er die Kommunalverwaltungen derzeit noch. „Viele sagen, man müsse bei der Digitalisierung ‚vor die Welle‘ kommen. Dabei sind wir nicht einmal hinter der Welle, sondern stehen noch am Ufer“, so Schurr. Helfen würde aus seiner Sicht ein einfacher, unkomplizierter Zugang zu Fördermitteln, mit denen Kommunen Dinge einfach einmal ausprobieren könnten, ohne haarklein angeben zu müssen, wofür sie es ausgeben. „Wir müssen stärker nach dem Trial-and-Error-Prinzip vorgehen, genauso, wie es auch in Unternehmen üblich ist“, sagt Schurr.