So entwickeln sich der Ländliche Raum weiter, sagt ein Think Tank
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Ans Telefon gehen! - Erkenntnisse aus drei Jahren Land.Schaf(f)t.Zukunft

29. Januar 2024
Wie gelingt die Zukunft des ländlichen Raums? Wie gelingt die dazu nötige Veränderung, die Transformation, die Weiterentwicklung? Diesen Fragen stellt sich der Think Tank "Land.Schaf(f)t.Zukunft", um sowohl Impulse für die Entwicklung des Ländlichen Raums zu liefern wie auch konkrete Projekte anzustoßen und zu beflügeln, wie Holger Zimmermann im Gastbeitrag berichtet.

Um zu erkennen, was Erfolgsfaktoren sind, haben wir mit Menschen gesprochen, denen Veränderung konkret vor Ort gelingt. Menschen, die den Beweis erbracht haben, dass Veränderung möglich ist. Wir haben sie “Veränderungsmacher” getauft.

Hier sind unsere (ersten) Erkenntnisse:

  • Menschen, die vor Ort Veränderung schaffen, gehen ans Telefon und beantworten Mails. So trivial diese Aussage sein mag, so deutlich ist sie herausgestochen. Sie steht im übertragenen Sinne dafür, dass diese Menschen zugänglich sind, offen für die Ansprache von außen, und Wert darauf legen, direkt und schnell zu antworten. “Wenn das Telefon klingelt, dann nehme ich selbst ab”, hat es Ferdinand Truffner formuliert. Als Bürgermeister von Empfingen müsste er das nicht machen. Es gibt ein Sekretariat. Ebenso wie Bernd Schott klar formuliert: “Ich beantworte jede Mail”. Damit baut sich der Tübinger Klimamanager ein Netzwerk, in dem er verlässlicher Partner ist und von dem er nach Bedarf ebenso profitieren kann.
  • Was zur zweiten Erkenntnis führt: Machtvolles Durchgreifen spielt eine untergeordnete Rolle bei der Veränderung. Sie mag in spezifischen Situationen hilfreich sein, doch weit seltener, als man meint. Veränderung kann man nicht per Anweisung erreichen. Vielmehr gilt es Mitstreiterinnen und Mitstreiter einzusammeln, Komplizen, die sich für den Sinn der Sache engagieren. Diese Komplizen werden nach Beitrag zur Sache ausgewählt, nicht nach hierarchischen oder strukturellen Gesichtspunkten. Sie kommen aus allen Ebenen der Hierarchie, aus allen Fach- und Unternehmensbereichen und auch von außerhalb des eigenen Unternehmens oder der eigenen Verwaltung.
  • Ignoriere die gegebene Organisationsstruktur und schaff dir eine eigene! Diese Komplizenschaft über Strukturen hinweg ist ein Faktor, der deutlich macht, dass die Veränderung außerhalb der bestehenden Organisationsstruktur abläuft. Es sind Menschen, die die Veränderung gestalten, nicht Abteilungen. Entsprechend haben fast alle unsere Ansprechpartnerinnen und -partner davon erzählt, mit welchen Menschen sie über welches Thema gesprochen haben und wie sie Menschen eingebunden haben. Woher diese Menschen kamen, war fast irrelevant, wichtig waren allein deren Beitrag zur Sache und die Bereitschaft, mitzuwirken. Zu dieser Komplizenschaft gehört das Selbstverständnis, dass die Veränderung nur gemeinsam mit anderen gelingt.
  • Veränderung braucht ein auslösendes Moment, einen für die Zielgruppe offensichtlichen Anker, der den Ausgangspunkt für die Story bildet, die man erzählen will. Das kann die Wahl zur Bürgermeisterin beziehungsweise zum Bürgermeister sein oder “exogene Faktoren, gegen die wir machtlos sind”, wie es uns aus dem Stab eines großen deutschen Automobilherstellers beschrieben wird.
  • Die Veränderungsbadewanne, Metapher für die Veränderungsphasen defreezing, change und freezing, gilt: vor der Veränderung kommt die Vorbereitung auf die Veränderung. In dieser Phase sind drei Botschaften wichtig: “Wir brauchen die Veränderung!”, “Wie haben Mittel und Wege, um die Veränderung zu gestalten, um damit klarzukommen!” und “Jeder kann einen Beitrag leisten!” Dann kommen das Verständnis für den Handlungsbedarf und die Zuversicht, dass die Transformation gelingt, zusammen.
  • Alle unsere Gesprächspartnerinnen und -partner haben ein Bild der Zukunft, das sogleich konkret und vage ist, eine Vorstellung davon, wie es am Ende sein soll, die noch Raum hat, um zu wachsen und sich zu entwickeln. Ein starres Ziel mit quantifizierten Zahlenwerten hat in keinem unserer Gespräche eine Rolle gespielt, einzig in Tübingen stehen die drei Kilo CO2-Ausstoß pro Bürger und Jahr im Raum. Allerdings eher als Vision und Orientierung, weniger als konkret messbares Ergebnis, das zum einem definierten Datum erreicht werden soll. Dennoch ist das keine laxe butterweiche Vorstellung der Zukunft, vielmehr ist es konkrete Richtschnur für alle Maßnahmen.
  • Das “Warum?” oder “Wozu?” ist für die Veränderungsmacher völlig klar. Was Bernd Schott mit dem Satz beschreibt: “Ich bin seit 36 Jahren Umweltschutz-bewegt.” Ein Satz, der stellvertretend für alle gilt, denn alle haben ein Motiv, einen “Antriebsfaktor”. Wobei die Motive schlicht auch darin liegen können, dass jemand das Gestalten an sich mag oder jemand schlicht den Auftrag bekommen hat, die Veränderung zu gestalten, und das reizvoll findet. Damit geht der Wille einher, deutlich spürbar, das Anliegen unbedingt erfolgreich zu machen. Da ist kein Warten auf andere oder bessere Rahmenbedingungen, da ist Machen.
  • Für dieses “Wozu?” sind die Veränderungsmacher bereit zu streiten und unbequeme Situationen zu klären, unbequeme Dinge zu regeln. “Nicht jedermanns Liebling sein”, ist ein Satz, der in unterschiedlichen Varianten in den Gesprächen immer wieder gefallen ist. Im Sinne der Sache ist es notwendig, unbequem zu sein, und nur eine logische Konsequenz, dass man nicht überall beliebt sein kann. So lässt sich das Selbstverständnis wohl gut beschreiben. Gleichzeitig scheinen die Veränderungsmacher genau durch diese Haltung respektiert zu sein. Nicht für die einzelne Aktion, jedoch für ihr generelles Vorgehen und Anliegen. “Der Kerle isch scho räacht”, würde der Schwabe wohl sagen. “Der Kerl ist grundsätzlich in Ordnung.”
  • Verlässlichkeit und Vertrauen sind die Währungen der Veränderungsmacher, “Win-win” ein wichtiger Wert. Für diese Prinzipien sind sie bereit, inhaltliche Fortschritte zurückzustellen, weil sie wissen, dass andere nur offen und zugänglich sind, wenn Vertrauen herrscht. Verlässlichkeit, Vertrauen und Win-Win haben Vorrang vor allem anderen.
  • Gleichzeitig haben die Macher Mut zum Risiko. Nicht blind, vielmehr sehr bewusst um Wahrscheinlichkeiten und mögliche Folgen. Alle miteinander sind bereit zum maßvollen Regelbruch oder zumindest dazu, Grauzonen ganz bewusst für die Sache zu nutzen.
  • Modellprojekte, Pilotprojekte, Ausprobieren und Experimente sind ein wesentlicher Teil des Selbstverständnisses. Vordergründig könnte man meinen, dass diese Stichpunkte Methoden beschreiben, mit denen Veränderung gestaltet werden kann. Das ist nicht der Fall. Diese Stichworte beschreiben die innere Haltung der Veränderungsmacher, die sich auch in Sätzen wie “Wenn A nicht funktioniert, dann versuchen wir eben B.” ausdrückt. Damit verbunden ist auch die Haltung, dass Unsicherheit und Nicht-Wissen Teil der Aufgabe sind. Die werden nicht ausgeblendet, im Gegenteil. “Unkonventionell”, beschreibt gut, wie diese Menschen denken und handeln. Eben immer auch ein bisschen frech und gerne an bestehenden Systemen vorbei bzw. über bestehende Systemgrenzen hinweg.
  • Konsequenz und Beharrlichkeit gehen mit diesem Versuchen, Testen, Herausfinden einher. Das Ziel ist fest im Blick, “drei Tonnen CO2 pro Bürger” etwa, der Weg dorthin ist flexibel, offen. Doch bei aller Lösungsoffenheit wird beharrlich daran gearbeitet, dass “man” dem Ziel Schritt um Schritt näher kommt. Diese Beharrlichkeit braucht Energie, kostet Kraft, die die Veränderungsmacher aufbringen. Nicht zuletzt deshalb sind vermutlich echte Komplizen in der Sache wichtig, um dieses Energielevel aufrecht erhalten zu können. Wie auch die Klarheit für das, was die Veränderungsmacher erreichen wollen, eine wichtige Quelle für diese Energie zu sein scheint.
  • Bei aller Beharrlichkeit spielt die passende Geschwindigkeit eine wichtige Rolle. “In kleinen Schritten zu denken, macht keinen Sinn”, formuliert Bernd Schott und beschreibt damit die Haltung insgesamt treffend. Gleichzeitig gilt es, ein für die Zielgruppe verkraftbares Tempo an den Tag zu legen, was voraussetzt, dass die Veränderungsmacher die Menschen im Blick haben, zuhören, versuchen zu verstehen.
  • Permanente Gespräche über das Anliegen und das Handeln sind elementarer Bestandteil der Veränderung. Dafür greift das Wort “Kommunikationsprozess” zu kurz, denn das Sprechen über das, was ansteht, ist ein integraler Bestandteil jeder Handlung, jedes Kontakts. Immer schwingt dabei die Frage mit, was das Gegenüber beitragen kann und was für die Gesprächspartner wichtig ist, um den Weg mitzugehen. Die Menschen müssen “wissen, woran man ist”, kann man die Grundbotschaft zusammenfassen. Andere Veränderungsmacher gehen weiter, sehen jeden Gesprächspartner als potenziellen Komplizen und lauern auf Chancen.
  • Chancenorientierung zeichnet Veränderungsmacher aus. Da fliegt Kairos, die Personifizierung der günstigen Gelegenheit, vorbei und der Bürgermeister greift zu. Schon sitzt das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum mit einer Niederlassung in einem kleinen Ort am Rande des Schwarzwalds. Auf Chancen lauern, Chancen erkennen und dann zupacken ist eine Handlungskette, die sich immer wieder gezeigt hat. Wobei die Chancen durch den Filter des Zukunftsbilds laufen. Was nicht dazu passt, wird ignoriert.
  • Allen Machern scheinen bei allem Offensichtlichen eine Art gefunden haben, sich und die Komplizen entsprechend zu organisieren. Das haben in den Gesprächen die wenigsten explizit ausgesprochen. Doch die Taten legen nahe, dass die Steuerung der Aufgaben sehr flexibel und anpassungsfähig sein muss, um auf Gelegenheiten und Hindernisse gut reagieren zu können. Irgendwo ist ein Portfolio an Vorhaben im Köcher, wird aktiv im Blick gehalten, und je nach Möglichkeiten und Rahmenbedingungen aktiv vorangetrieben oder auch mal im Pause-Modus warmgehalten.

Mit jedem Gespräch wurde uns bewusst, dass “die Verwaltung” bei der Gestaltung der Zukunft des ländlichen Raums DIE Schlüsselrolle einnimmt. Sie kann dabei Engpass sein oder Möglichmacher. Wie sie sich positioniert, hat sehr viel mit dem zu tun, was die Verwaltungsspitze will. Mindestens auf lokaler Ebene wird das sehr deutlich. Das Wort “will” ist sehr bewusst gewählt. Die Geschichten der Veränderungsmacher zeigen, dass Veränderung gelingt, wenn an den passenden Stellen Menschen sitzen, die den Willen haben, einen Unterschied zu machen.

Die Gespräche, die wir geführt haben, machen zuversichtlich. Bei aller Starre, die der Verwaltung unterstellt wird, gibt es Menschen, die diese Starre schlicht nicht interessiert. Dann ändern sich die Dinge recht zuverlässig.